Hamburg war von Anfang an dabei. Lange bevor Süleyman Taşköprü am 27.06.2001 in der Schützenstraße in Hamburg-Bahrenfeld am hellichten Tag in seinem Laden erschossen wurde, entstanden die Ideen zu einem Mord wie diesem auch in der Stadt, in der er wohnte. Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) bildete sich keineswegs aus dem Nichts. Die Struktur, die sich die drei Untergetauchten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gaben, wurde in den 90er Jahren bis hinein in die frühen 2000er szeneintern diskutiert und ausgearbeitet. Diese Strategien für einen Kampf im Untergrund lassen sich in Szenepublikationen nachlesen. Das Motto: Der Kampf gegen das System, ein Klima der Angst schaffen, Unsicherheit in der Gesellschaft schüren.
Eine dieser einschlägigen Zeitschriften war der „Hamburger Sturm“, mehrere Ausgaben davon wurden 1998 auch in der Garage der drei neben dem Sprengstoff gefunden. Einer der Hauptverantwortlichen für die Zeitung und die dahinter stehende Gruppe, Torben Klebe, ist bis heute aktiver Neonazi, momentan für die NPD Hamburg tätig. Andrea Röpke betonte vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss zum NSU: „Hamburger Sturm“ war einer der Wortführer,war einer der Strategieführer der Szene .“ Vorbild für die hier beworbenen terroristischen Kleingruppen war Combat 18, der bewaffnete Arm von Blood&Honour. Heute ist bekannt, dass dieses auch in Deutschland tätige Nazi-Netzwerk den NSU entscheidend nach der Flucht unterstützte. Im Jahr 2000 wurde sowohl der „Hamburger Sturm“, als auch die deutsche Division von Blood&Honour verboten. Die Seilschaften hielten aber über dieses Verbot hinaus. [1]
Das Konzept der terroristischen Kleingruppe ist nicht das erste aus Hamburg propagierte, dem sich die drei, die später die Kernzelle des NSU bilden sollten, anschlossen. Die in den 90ern für die Neonaziszene in Deutschland zentrale Struktur „Anti-Antifa“ wurde vom bis heute aktiven Hamburger Neonazi Christian Worch gegründet. So organisierten sich auch in Thüringen informelle Gruppen und Zusammenschlüsse unter diesem Namen und traten 1994 das erste mal auf die Bildfläche. Aus anfänglich 20 Personen wurden bis zu 120, die sich 1997 in „Thüringer Heimatschutz“ umbenannten. Der „Thüringer Heimatschutz“ ist heute auch bekannt als die Struktur, aus der der NSU und seine engste UnterstützerInnenstruktur kamen.
Doch in Thüringen wurden nicht nur aus Hamburger Szeneblättern entnommene Ideen in die Tat umgesetzt. Vielmehr bemühten sich führende Köpfe der Neonazi-Szene aus Hamburg aktiv und vor Ort um Vernetzung und Stärkung der ostdeutschen Strukturen. Der eben schon erwähnte Worch beteiligte sich federführend am „Aufbauplan Ost“, dieser „propagierte den massiven Einsatz westdeutscher Nazi-Kader in der ehemaligen DDR, um unter Ausnutzung des gesellschaftlichen Umbruchs und Zusammenbruchs alter Strukturen möglichst erflogreich eine neonazistische Infrastruktur aufzubauen.“ [2]
Darüber hinaus sind einige Einzelverbindungen zwischen Hamburg und Thüringen bekannt. Der später als V-Mann „Tarif“ enttarnte Michael See aus Jena, der mit seiner Publikation „Sonnenbanner“ ebenfalls als Ideengeber des NSU gilt, wurde von dem inzwischen verstorbenen Hamburger Nazi-Anwalt Jürgen Rieger vertreten. Zwischen See und dem NSU kann ein „Kennverhältnis nicht ausgeschlossen werden“, wie es in Beamtendeutsch heißt. Zschäpe und andere Thüringer Neonazis, waren bei Treffen von Riegers „völkisch-neuheidnischer Artgemeinschaft“ zu Gast. Die „Nordische Zeitung“ von Riegers „Artgemeinschaft“ und das „Deutsche Rechtsbüro“ der Szene-Anwältin Gisa Pahl erhielten später den sogenannten „NSU-Brief“, mit dem die drei aus dem Untergrund Geld an verschiedene Nazi-Organisationen spendeten. Gisa Pahl führte bundesweit Rechtsschulungen für Neonazis durch, bei einer solchen war auch Uwe Böhnhardt zu Gast.
Die Verbindungen zwischen Hamburg und Thüringen müssen teilweise mühsam zusammengesucht werden, immer der Frage folgend, wer könnte sich gekannt und wo getroffen haben. Aber das heißt nicht, dass es sie nicht gibt.
Aber mit Informationen wird beim ganzen Themenkomplex NSU gegeizt, da bildet Hamburg keine Ausnahme. Erst nach und nach wurden die Abgründe der hiesigen Polizeiarbeit klarer. Immer noch wird behauptet, man habe an ein rechtes Motiv gedacht, es hätte keine Hinweise gegeben, aber es wäre in „alle Richtungen“ ermittelt worden. Doch die Ermittlungsansätze, die beispielsweise vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss weiterhin geradezu trotzig verteidigt wurden, verdienten nicht zu unrecht die interne Bewertung der Ermittlungsgruppe Bosporus: „abwegig“.
Am 27. Juni 2001 fand Ali Taşköprü seinen Sohn sterbend in seinem Blut liegend im gemeinsamen Geschäft vor. Süleyman Taşköprü starb noch am Tatort. Danach wurde eine Mordermittlung in Gang gebracht, die zunächst normal erscheint. Zeugen und Zeuginnen wurden vernommen, Nachbarinnen und Nachbarn befragt. Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass es sich bei der Tat um die dritte in einer Mordserie handelte, die in Bayern ihren Anfang genommen hatte. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei schon die Aussage einer Zeugin aufgenommen, die einen Streit in einer „Fremdsprache“ gehört haben wollte und sie hatten festgestellt, dass Süleyman Taşköprü ein kleines Vorstrafenregister sowie Kontakte zum Kiezmilieu hatte. Nichts schwerwiegendes, wie später eingeräumt wird, aber genug, um der Hamburger Polizei Scheuklappen anzulegen. Der Tunnelblick sah nur noch eins: Kiezmilieumord. Die Aussage des Vaters, der zwei Männer am Tatort gesehen hatte, die er als deutsch aussehend beschrieb, wurde ignoriert, wie auch die wiederholten Hinweise von anderen Vernommenen, sie könnten sich vorstellen, dass es sich um eine Tat mit rechtem Hintergrund handeln könnte. Von dem Brief, den 2006 eine Hamburger Moschee-Gemeinde 2006 erhielt, wollte die Polizei nichts gewusst haben: „TÜRKEN-HASSER. Das sind wir alle! Ihr habt euch hier eingeschlichen und bleibt Multikulti und Verbrecher. Es ist doch gut, dass mal einer ein paar Türken abknallt. Ich habe mich darüber gefreut. Denn langsam führen die Türken die Spitze an für Überfälle auf Frauen und Kinder usw. Die Regierung muss die Ausbürgerung beschleunigen. Die sollen in die Türkei zurück, haben hier nichts zu suchen. Es ist ja nicht mehr auszuhalten mit dem Kopftuchgesindel. Also, Hitler hätte so was nie geduldet, nach einem 1/2 Jahr müssten die wieder raus.“ Die rechte Szene und Gleichgesinnte hatten verstanden, was vor sich ging. Die Nachricht des NSU war hier und in der migrantischen Community angekommen, noch bevor sie sich 2011 selbst enttarnten.
Nach dem 11. September 2011, der auch eine Kränkung des Hamburger Sicherheitsapparats darstellte, liefen die Ermittlungen mit zwei zuständigen Personen auf Sparflamme, und nachdem vermeintlich alle Spuren abgearbeitet waren, wurde der Fall 2002 für dreieinhalb Jahre auf Eis gelegt. Währenddessen lief die bundesweite Mordserie weiter.
Erst als die bundesweite Ermittlungsgruppe Besondere Aufbauorganisation (BAO) Bosporus gegründet wurde, wurden auch die Ermittlungen in Hamburg wieder aufgenommen.
Der inzwischen aus dem Bereich der organisierten Kriminalität dem Fall zugewiesene Beamte sorgte in der Ermittlungsgruppe wiederholt für Irritation. Er plädierte mit Hinweis auf Taşköprüs Kontakte immer wieder dafür, den Hamburger Fall aus der Mordserie auszugliedern, und separat zu behandeln. In der Ermittlungsgruppe wurde nach einen erneuten Fallanalyse eine Einzeltätertheorie, sogar mit möglichen rechten Hintergrund, der Theorie des organisierten Verbrechen vorgezogen. Damit kam die BAO Bosporus der Wahrheit erstaunlich nah. Unter fadenscheinigen methodischen Begründungen wurde diese Theorie von den Hamburger Ermittlern immer wieder zurückgewiesen, auch bei den Überlegungen, diese an die Presse weiterzugeben, äußerten sie laute Einwände. Angeblich, um die türkische Bevölkerung nicht in Angst zu versetzen. Bis heute wird behauptet, alles getan zu haben. Zu den bekanntesten Anstrengungen gehörte auch, einen Wahrsager mit dem Verstorbenen Kontakt aufnehmen zu lassen, der dann von Banden und dunkelhäutigen Mördern sprach und so die Hamburger Polizei in ihren Theorien noch bestärkte. Noch bei seiner Aussage beim Bundestagsuntersuchungsausschuss bemühte der ermittelnde Polizist ein rassistisches Stereotyp, um Taşköprü zu schreiben, er sprach von Ihm als „einen ganz normalen türkischen Mann: leidenschaftlich, sehr energisch und dominant vom Wesen.“
Im Hamburg von 2014 wird nun immer wieder von Behördenseite bekräftigt, alles zur Aufklärung beitragen zu wollen. Gleichzeitig werden alle Fragen abgewiegelt, Fragenstellenden wird deutlich das Gefühl gegeben, eher lästig zu sein. Auf parlamentarische Anfragen gibt es nichtssagende Antworten, oder den Verweis auf das Gerichtsverfahren in München, bei dem aber Behördenver s agen keinen P la tz findet. Eini g e Antworten gibt es wohl beim Parlamentarischen Kontrollausschuss. Aber dieser tagt geheim. Es wird nur zugegeben, was Einzelne in Detailarbeit herausgearbeitet haben. Als groß z ügige Geste soll nun eine unbewohnte Seitenstraße in der Nähe des Tatorts umbenannt werden, um an das Opfer zu gedenken. Hamburg reiht sich mit seinem Unwillen, Aufklärung und Aufarbeitung zu leisten, in die bundesweiten Bestrebungen, einen Schlussstrich unter das Kapitel NSU zu ziehen, nahtlos ein.
- [1] Andrea Röpke vorm Bundestagsuntersuchungsausschuss am 22.03.2012
- [2] Broschüre „1974 – 1994. 20 Jahre Neonazis in Hamburg“